Sonntag, 17. Juni 2007

Zu "La raison du plus faible" von Lucas Belvaux

"Auf dem Gipfel des Hochofens führt um das Maschinenhaus des Schrägaufzuges eine beängstigend enge Balustrade. Hier oben, wo's höher als auf Kirchturmspitzen ist, muss man nicht zwischen glühenden Stahlstücken, offenen Versenkungen und rollenden Radreifen balancieren, von fallenden Lasten und zischend emporlodernden Flammen erschreckt und vom Klirren und Hämmern entnervt. Und doch überblickt man die ganze Landschaft, die uns bewusste Laien tagsüber bewegt und begeistert hat, wir umfassen von höherer Warte die Plätze, auf denen uns heiße Eindrücke eingepresst wurden; wir können auf diesem Prospekt den Weg voll verwirrender Schönheit und bitterer Reflexion rekapitulieren, den wir heute gingen und den alltäglich und allnächtlich das Erz geht und die Arbeit in allen Stadien."

Hier fängt kein Film an, sondern die Reportage "Stahlwerk in Bochum, vom Hochofen aus gesehen" von Egon Erwin Kisch. Dieses Setting ist bekannt - und wird auch im Film "La raison du plus faible" erzählt. Der Belgier Lucas Belvaux, der vor drei Jahren mit einer spannend konstruierten Trilogie "Un couple épatant" / "cavale" / "après la vie" auch das Berliner Publikum überzeugte, ist nun aus der Région Rhône-Alpes nach Belgien zurückgekehrt und schildert eine Episode aus dem Schatten der Hochöfen von Liège. Hochöfen, die in Zeiten der Globalisierung demontiert werden - und so beginnt der Kinofilm mit dem Bericht aus der guten alten Zeit. Die Stahlwerker und ihre Kinder, die den "Adelsstand unter den Arbeitern" eingenommen hatten, erzählen diese Vergangenheit dem kleinen Steve, dem Sohn zweier Hauptfiguren, und der Grundschüler ist sichtlich stolz darauf, dass "beide Opas" diesem Adel angehörten.

Die Jetztzeit indes ist traurig. Der Film erzählt den Alltag der arbeitslos gewordenen Arbeiter. Sie müssen zusehen, wie ihre Fabrik demontiert und im Zuge der Globalisierung in den Osten verkauft wird, der Rest wird als Schrott versilbert. Aber die Geschäftsführer des Liquidationsunternehmens haben oft abends hohe Summen Bargelds im Safe. Das bringt einen von ihnen auf eine Idee ...

"La raison du plus faible" ist aus der Perspektive der Protagonisten erzählt, die ähnlich wie in Schlöndorffs "Der plötzliche Reichtum der armen Leute von Kombach" einen Geldtransport überfallen - doch anders als im Film von 1970, der zum "Neuen deutschen Film" zählt, endet der Überfall so, wie es der Zuschauer von Anfang an befürchtet. (In der deutschen "Literaturverfilmung" eines Gerichtsprotokolls von 1825 gelang der Coup, die armen hessischen Bauern hatten sich danach indes durch ihren plötzlichen Reichtum verdächtig gemacht).

Die Orte der Schwerindustrie sind gut gewählt, sie sind eindrucksvoll fotografiert, und Lucas Belvaux' Film, der letztes Jahr in Cannes im Wettbewerb lief, lässt die Erinnerung an die Hochöfen zumindest anklingen. Es klingt aber auch noch mehr an, die Funktionsweisen verschiedener Genres nämlich, Komödie, Thriller und Melodram. Der Regisseur hat ein wunderbares Team um sich herum versammelt - von Natacha Régnier, Claude Semal, Eric Caravca - und Lucas Belvaux spielt ebenfalls mit. Auch einen wallonischen Theaterschauspieler konnte er für sein Projekt gewinnen, wie auch das wallonische Französisch hier zu Ehren kommt. (Was hat wohl die französische Filmförderung dazu gesagt, in der es für die Verwendung der französischen Sprache mehr Geld gibt?)

Anders als die französische Kritik waren wir als Zuschauer'kollektiv' des Seminars allerdings vom Film nicht überzeugt. Gerade die Unentschiedenheit zwischen den Genres, die Zwangsläufigkeit, mit der es am Ende zum Show down kommt, und die Ausweglosigkeit, die darin liegt, enttäuschten selbst jene, die von der Trilogie vor drei Jahren nichts gehört hatten, die sich also ohne Erwartungen auf den Film einließen.

So dass wir weiter über gute Texte nachdachten und Kisch über die Schulter schauten. Aktives Schreiben, mit allen Sinnen: hier oben mit Blick über die Hochöfen ist es beängstigend eng, wir spüren glühenden Stahl, lodernde Flammen, hören Hammern und Klirren und sind bedroht von vorbeibalancierenden Schwerlasten und sich nach unten öffnenden Versenkungen ...

Permettez-moi de clore avec Kracauer / Erlaubt mir, mit Kracauer zu enden: "Hundert Berichte aus einer Fabrik lassen sich nicht zur Wirklichkeit der Fabrik addieren, sondern bleiben bis in alle Ewigkeit hundert Fabrikansichten. Die Wirklichkeit ist eine Konstruktion."

Das Gleiche gilt für Kino, na klar.

Samstag, 16.6.2007, 16.30 Uhr im FAF, Sonntag, 17.5.2007, 19.00 Uhr im Cinéma Paris

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